Ich höre Dir zu! Psychosoziale Begleitung von Menschen für Menschen in Kolumbien

Ein Workshop zum Thema Selbstfürsorge. In regelmäßigen Abständen kommen freiwillige Zuhörer*innen, spanisch "Agentes Voluntarios de Escucha (AVEs)", aus allen vier Kollektiven mit dem CIE-Team zusammen, um zu lernen.

Aufmerksamkeit schenken und aktiv zuhören sind Gesten, die Menschen mit Gewalterfahrung bei der Bearbeitung ihrer Erlebnisse sehr unterstützen können. Im Centro Integral de Escucha (CIE) werden ehrenamtliche Zuhörer*innen ausgebildet, die niedrigschwellige psychosoziale Begleitung und Erinnerungsarbeit unterstützen.

 

Durch die offenen Flügeltüren des Begegnungsraums in der Sozialpastoral Apartadó im kolumbianischen Apartadó fällt das Licht der Nachmittagssonne an die grün getünchten Wände. Unter den großen Deckenventilatoren ist es angenehm kühl. Von draußen weht eine warme Brise herein. In der Nachbarschaft läuft Musik. Auf den Sitzgelegenheiten nahe dem großen Fenster haben Besucher*innen Platz genommen. Sie wirken entspannt, ohne Eile – sie sind gekommen, um zu verweilen.

"Uns ist es wichtig, dass die Menschen sich hier Willkommen fühlen und die positive Atmosphäre sie ermutigt, sich zu öffnen und in den Austausch zu gehen", sagt Matthias Breuer, der seit 3 Jahren als Fachkraft des Zivilen Friedensdienstes von AGIAMONDO in der Sozialpastoral arbeitet. Er hat den Raum mit eingerichtet und gestaltet. Dieser ist Teil des "Centro Integral de Escucha (CIE)", was so viel heißt wie Zentrum des Zuhörens. Es bietet Initiativen der psychosozialen Beratung und Erinnerungsarbeit an einem Ort, der "inneren Frieden und Dialog fördern kann", wie Breuer es formuliert. Außerdem haben die Initiativen eine Besonderheit – sie werden von Mitmenschen für Mitmenschen gestaltet.

Centro Integral de Escucha

Die Idee des CIE entstand Ende der 2000er Jahre als Antwort der Sozialpastoral auf die vielfachen Gewalterfahrungen, denen die Bevölkerung ausgesetzt war und bis heute ist. Der Grundgedanke bezog sich darauf, eine Anlaufstelle für die Nöte und Sorgen, aber auch die Erinnerungsarbeit der vom Konflikt betroffenen Gemeindemitglieder zu schaffen. Zunächst gab es eine durch das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, begleitete therapeutische, psychologische Einzelfallberatung. Seit Beginn der Zusammenarbeit mit AGIAMONDO 2021, mit der auch Matthias Breuers Engagement in Apartadó anfing, rückte das Gruppen- und Gemeinwesen stärker in den Fokus – und das Ziel, die Angebote des Zentrums trotz begrenztem Budget zu erweitern und zu konsolidieren.

"So entstand die Motivation, ein Netzwerk von Freiwilligen aufzubauen", sagt Breuer, "ein Kollektiv von Mitmenschen, die ein direktes Interesse an positiver Veränderung in ihren Gemeinden haben und die, weil sie vor Ort leben und dazugehören, langfristiges Engagement ermöglichen können und wollen." Seitdem widmet sich das CIE-Team, zu dem neben Breuer als Koordinator auch zwei Psychologinnen und zwei Praktikant*innen von der Uni gehören, verstärkt dem Finden, Ausbilden und Begleiten der sogenannten "AVEs", der Agentes Voluntarios de Escucha, ehrenamtlichen Zuhörer*innen.

Sich gegenseitig zuhören soll dynamisch sein und Spaß machen – AVEs bei der Arbeit in einem Gruppenangebot mit Gemeindemitgliedern.
In Riosucio setzen sich AVEs mit dem Thema „Aktives Zuhören“ auseinander.
Weiterbildungsworkshop für AVEs in Riosucio, Chocó. Zwei Frauen erproben in der Praxis, wie „Aktives Zuhören“ gut gelingen kann.
Zu Matthias Breuers (vorn) Aufgaben gehört es, das Modell der „Agentes Voluntarios de Escucha“ in verschiedenen Gemeinden interessierten Mitmenschen vorzustellen.

Agentes Voluntarios de Escucha

Erfahrungen und Schicksale, die Gehör brauchen, gibt es viele. In der Region Urabá sowie dem zum Bistum gehörenden Teil des Chocó an der Küste im Nordwesten Kolumbiens tragen Paramilitärs, Guerrillas und staatliche Truppen seit Jahrzehnten gewaltsame Konflikte aus. Immer wieder wird die Zivilbevölkerung Opfer der Gewalt. Schutz durch öffentliche Maßnahmen oder Unterstützung gibt es kaum. "In diesem Kontext ist die Sozialpastoral ein wichtiger Akteur, an den sich die Menschen in Notlagen wenden können, und dem sie deshalb auch in besonderer Weise Vertrauen entgegenbringen", reflektiert Breuer.

Die Bereitschaft aus der Bevölkerung, sich im AVEs-Projekt zu engagieren, war und ist daher groß. Da die intensive Auseinandersetzung mit den Schicksalen anderer auch Herausforderungen mit sich bringt, orientiert sich das CIE-Team an bestimmten Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, die die Kandidat*innen mitbringen sollten. Ist eine Gruppe gefunden, bereiten sich ihre Mitglieder über 10 Monate gemeinsam auf die Freiwilligenarbeit des Zuhörens vor. Dazu leitet das CIE alle 14 Tage Workshops an, in denen unterschiedliche Themen – Umgang mit Emotionen, Umgang mit Gewalterfahrungen, Selbstfürsorge etc. – behandelt werden.

Unterstützung von Betroffenen für Betroffene

Mittlerweile gibt es 52 AVEs, die in insgesamt vier unterschiedlich großen Kollektiven in den Gemeinden Apartadó, Carepa, Turbo und Riosucio aktiv sind. Auch nach den Ausbildungsworkshops unterstützt das CIE sie weiterhin bei ihrem Engagement, indem es Gesprächsangebote, Workshops und Themenreihen mit organisiert, Erfahrungen auswertet, Selbstfürsorge begleitet und Räume wie den Begegnungsraum in Apartadó zur Verfügung stellt, wo Treffen stattfinden können. "Wir kümmern uns auch darum, weiterführende Beratung von Institutionen, Organisationen oder professionellen Psycholog*innen in die Wege zu leiten, wenn es Unterstützungsbedarfe gibt, die die AVEs nicht leisten können", so Breuer. Und es zählt zu den Aufgaben des CIE dafür zu sorgen, dass die AVEs selbst gesund bleiben.

Wissenswert

Das Centro Integral de Escucha (CIE) ist eine Initiative der Sozialpastoral Apartadó in der gleichnamigen Diözese in Kolumbien und richtet sich an Menschen aus der Region, die psychosoziale Unterstützung sowie Begleitung bei der Bearbeitung von Gewalterfahrungen suchen. In z. T. eigens dafür eingerichteten Räumlichkeiten und im Kontakt mit sogenannten "Agentes Voluntarios de Escucha (AVEs)", freiwilligen Zuhörer*innen, die für diese Aufgabe ausgebildet werden, finden Betroffene Orte der Begegnung, des Zuhörens, der Selbstfürsorge und des Miteinanders.
Organisiert und begleitet werden diese Angebote von einem Team Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen der Sozialpastoral, die in mittlerweile vier unterschiedlichen Gemeinden AVEs-Gruppen aufgebaut haben. Sie kümmern sich auch um deren Weiterbildung durch Workshops, die über 10 Monate alle 14 Tage stattfinden und u. a. die Auseinandersetzung mit Formen von Gewalt, Techniken des aktiven Zuhörens oder psychosozialer Gesprächsführung beinhalten.
Ziel des CIE ist es, Gewaltbetroffene zu stabilisieren, den Wiederaufbau sozialer Strukturen zu stärken und langfristig zu einer gesellschaftlichen Transformation und zu einem dauerhaften Frieden in der Region beizutragen.

Denn die Auseinandersetzung mit Gewalterfahrungen ist immer belastend. Und in den meisten Fällen haben die Freiwilligen das, was sie von anderen hören, selbst auch erlebt. Für viele ist genau das ihre Motivation. "Sie setzen sich ein, weil sie wissen, wie sich Verletzung und Ohnmacht anfühlen und sie so zu Heilung und positiver Veränderung beitragen können", sagt Breuer. "Und weil sie wissen, dass es sonst niemand macht."

Wirksamkeit der Gruppe

Doch auch, wenn es den AVEs oft viel abverlangt, diese Arbeit zu tun, beobachten die Kolleg*innen des CIE, wie viel sie daraus mitnehmen. Matthias Breuer erinnert sich an eine junge Frau, die zu Beginn der Workshops eher abwesend und unscheinbar wirkte und heute in ihrem Kollektiv als selbstbewusste Persönlichkeit geschätzt wird, die gut zuhören kann und zu einer offenen und konstruktiven Gruppendynamik beiträgt.

"Gruppen sind mir wichtig", sagt Matthias Breuer, der vor seiner Tätigkeit im CIE als Sozialarbeiter mit Kindern und Jugendlichen in Bogotá gearbeitet hat. "In Urabá spielen sich grosse Teile des Lebens gemeinschaftlich ab. Die Familien sind groß, es gibt viele Kinder, mehrere Generationen leben zusammen unter einem Dach." Auch Gewalterfahrungen passierten in Kollektiven, ebenso wie ganz viel von dem, was Verarbeitungsprozesse oder Lösungsfindung betreffe, so Breuer. Im Projekt ergäben sich durch diesen Fokus positive Effekte auf beiden Seiten: Die Menschen aus den Gemeinden werden motiviert, über Räume des Austauschs Gewalterfahrungen zu bearbeiten und neues Vertrauen in soziale Bindungen aufzubauen. Die AVEs wiederum erleben, wie sie gemeinsam wachsen können, durch Wissen und Interaktion und die aktive Teilnahme an Veränderung auf dem Weg zu einer Gemeinschaft des Friedens.

März 2025

Text: Eva Maria Helm, Matthias Breuer